„Warum willst du dir die Zeit vertreiben?“ – meine etwas empörte Reaktion in einem Gespräch an einem lauen Sommerabend.
Wir saßen draußen, es war schon dunkel, aber die Luft immer noch warm, und plötzlich nannte mein Gegenüber eine Tätigkeit „Zeitvertreib“.
Ich war sofort innerlich aufgewühlt:
„Warum willst du die Zeit ‚vertreiben‘, wenn sie doch das Kostbarste ist, das wir haben? Wäre es nicht viel schöner, jeden Moment bewusst zu erleben, ihn auszukosten und vielleicht sogar festzuhalten – anstatt ihn einfach verstreichen zu lassen?“
Dieses Gespräch ließ mich nicht mehr los.
Wozu dient eigentlich der Zeitvertreib? I
Ist er nur ein Mittel, um die Stunden schneller hinter uns zu bringen?
Oder zeigt er uns vielmehr, dass wir unsere Lebenszeit nicht wirklich schätzen?
Was ist „Zeitvertreib“?
DEUTSCH (DUDEN)
Zeit·Ver·Treib, der
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etwas, womit sich jemand die Zeit vertreibt
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Beispiel: „Serien schauen ist mein liebster Zeitvertreib.“
Der Begriff bezeichnet Tätigkeiten, die wir ausführen, um uns die Zeit zu vertreiben – oft ohne tieferen Zweck oder langfristige Bedeutung.
Beispiele sind Fernsehen, Social Media oder Hobbys, die vor allem der Ablenkung dienen.
ENGLISCH (CAMBRIDGE DICTIONARY)
pastime (noun)
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something that you do regularly for enjoyment rather than work; a hobby
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Beispiel: „Do-it-yourself is the nation’s most popular pastime.“
👉 Quelle: Cambridge Dictionary
Im Englischen klingt weit aus positiver und hier wird ein aktives Beispiel aufgeführt. Interessant!
Ist „Zeitvertreib“ ein Zeichen für Lebensverschwendung?
In unserer Gesellschaft, die Produktivität und Effizienz betont, wird Zeitvertreib oft negativ bewertet.
Wir könnten denken, dass wir unsere Lebenszeit nicht wertschätzen.
Und können wir unsere Zeit nicht auch wertschätzen, indem wir einfach nur auf einer Wiese liegen und in den Himmel schauen?
Zeit muss aus meiner Sicht nicht immer effektiv genutzt werden.
Aber wir sollten uns bewusst machen, wir wertvoll sie ist.
Doch ist diese Sichtweise wirklich gerechtfertigt?
Was sagt das Yogasutra dazu?
1. SUTRA I.2 – YOGAŚ CITTA-VṚTTI-NIRODHAḤ
„Yoga ist das Zur-Ruhe-Kommen der Bewegungen des Geistes.“
Wenn wir Zeit „vertreiben“, dann oft, weil wir die Unruhe des Geistes nicht aushalten. Im Yoga lernen wir, diesen Bewegungen nicht ausgeliefert zu sein, sondern im Moment zu verweilen.
2. SUTRA I.12 – ABHYĀSA-VAIRĀGYĀBHYĀṀ TAN-NIRODHAḤ
„Durch Übung und Loslassen kommt der Geist zur Ruhe.“
Statt Zeit „wegzuschieben“, üben wir im Yoga Abhyasa (kontinuierliche Praxis), die uns im Moment hält, und Vairagya (Nicht-Anhaften), das uns hilft, die ständige Suche nach Ablenkung loszulassen.
3. SUTRA II.1 – TAPAḤ SVĀDHYĀYA ĪŚVARA-PRAṆIDHĀNĀNI KRIYĀ-YOGAḤ
„Disziplin, Selbststudium und Hingabe sind der Yoga des Handelns.“
Zeit sinnvoll zu nutzen, heißt nicht, immer produktiv zu sein, sondern bewusst zu wählen: Disziplin im Tun, Reflexion und Hingabe an das, was ist. Zeitvertreib kann so zu etwas Tieferem werden.
4. SUTRA II.3 – AVIDYĀ-ASMITĀ-RĀGA-DVEṢA-ABHINIVEŚĀḤ KLEŚĀḤ
„Unwissenheit, Ego, Anhaftung, Abneigung und Angst sind die Ursachen des Leidens.“
Oft suchen wir im „Zeitvertreib“ Ablenkung von Unruhe oder Angst. Im Yoga erkennen wir: Wir müssen nicht fliehen, sondern dürfen lernen, bei uns selbst zu bleiben.
Den Geist zu beruhigen, den Moment bewusst zu spüren und das Hier und Jetzt zu genießen oder auch auszuhalten – vorausgesetzt, wir handeln bewusst und nicht aus Gewohnheit oder Flucht vor unangenehmen Gefühlen.
Auch in unserer physischen Yogapraxis üben wir uns, mit dem Moment zu verbinden – ob in Stille, im Atem oder in unserer Asanapraxis.
Je ruhiger es wird, desto schwieriger erscheint es manchmal, wirklich bei dem zu sein, was wir gerade tun.
Das mit dem Zur-Ruhe-Kommen-des-Geistes ist wirklich eine große Herausforderung.
Kraftvolle Asanas hingegen fordern unsere gesamte Aufmerksamkeit und helfen uns, uns auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.
Kraftvolle Yogahaltungen, um den Moment zu spüren
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Dolphin / Delfin – öffnet Schultern und Brust, stärkt Arme und Rumpf, fördert Erdung und Konzentration.Oder für die Fortgeschritteneren Unterarmstand / Pincha Mayurasana – Herausforderung für Kraft, Stabilität und Mut.
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Bakasana / Krähe – fordert Gleichgewicht und Fokus, trainiert Geduld und Selbstvertrauen
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Adho Mukha Virabhadrasana / Krieger I – kraftvolle Erdung, Fokus auf die eigene Stärke.
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Virabhadrasana II / Krieger II – Weite, Stabilität und Durchhaltevermögen.
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Virabhadrasana III / Krieger III – Balance, Zentrierung und Körperbewusstsein.
Ätherische Öle – Verbindung mit dem Moment
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Rosmarin / Rosemary – belebt Geist und Konzentration, hilft, bewusst im Körper zu spüren.
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Pfefferminze / Peppermint – klärt den Kopf, unterstützt Fokus und gegen Ablenkung.
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Zitrone / Lemon – vitalisiert, fördert Wachheit und Freude, hilft, den Augenblick zu genießen.
Zum Schluss
Das Wort "Zeitvertreib" ist für jeden Menschen anders besetzt.
Er kann durchaus vergnüglich und intensiv sein.
Ich würde das Wort gern ersetzen durch „Zeitgenuss“ oder „Zeit wertvoll erleben“ – und an meine eigene Nase fassen:
Wie oft verbringe ich Zeit, ohne den Moment wirklich zu achten und zu schätzen und vertreibe sie - Mist!
Doch ein wenig Hoffnung ist da, denn meine Bucketlist ist lang – ich möchte auf keinen Fall am Ende meines Lebens denken:
„Oh man, ich habe viel Zeit verschwendet.“
Dabei steht das Fühlen und Erleben eines Moments für mich immer an erster Stelle – selbst wenn die Aktivitäten auf meiner Liste wenig sinnhaft erscheinen.
Reflexionsfragen für dich
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Welche Tätigkeiten betrachtest du als „Zeitvertreib“?
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Wann hast du zuletzt bewusst einen Moment genossen, anstatt ihn „zu vertreiben“?
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Wie kannst du deine Zeit heute so gestalten, dass sie wertvoll und bewusst ist?
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Welche körperlichen oder mentalen Praktiken helfen dir, wirklich im Moment zu sein?
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